Wie urlaubsreif ich bin, merke ich jetzt, wo ich versuchte mich zu erinnern, wo ich denn eigentlich genau bin. Heidenheim an der Brenz, und ich muss mich entschuldigen: Heidenheim an der Brenz, ich habe geschrieben: „Eine andere Woche, ein anderes Kaff.“ Das stimmt nicht, Du bist kein Kaff. Du bist sogar ziemlich groß und kannst Dir Umleitungen, Baustellen und Staus leisten. Das ist schon was. Und ein Schloss hast Du, wie ich, als ich die Stadt wieder betrat, sah und mich erinnerte.

So wie ich diesmal kam, sah ich auch, dass Du eine Menge Industrie hast – beispielsweise Voith. Nur Gardena ist weg gegangen, vielleicht ja auch nur vor die Stadt. Aber ich befürchte, liebes Heidenheim, Du hast Gardena an China verloren. Ich kann ja zu Hause mal auf unsere Werkzeuge gucken, denn liebes Heidenheim, meine Frau ist ein großer Fan von Gardena und damit ja vielleicht auch eine heimliche Liebhaberin von Dir. Auch wenn ich glaube, dass sie von Heidenheim nur aus meinem Munde bisher gehört hat und keine großes Gefühle für Dich hegt, weil mein Aufenthalt bei Dir bedeutet, dass ich nicht bei ihr sein kann.

Hier in dem kleine Vorort, in dem ich Weile, welches auch Deinen Namen trägt, habe ich wohl die Brenz gesehen. Recht lauschig. Könnte mir vorstellen, dass ich im Sommer mich hier richtig wohlfühlen kann. An dem Flüsschen, in dessen Nähe auch ein Biergarten liegt. Überhaupt sind die Leute sehr nett hier. Im Hotel sowieso. Ich werde ständig mit Namen angesprochen, so dass ich schon fast um meine Privatsphäre fürchte. Meine Vermutung ist ja die, dass sie sich den Namen nicht merkten, weil ich so ein netter Kerl bin, sondern weil es ein kurzer prägnanter Name ist und ich weit nach Mitternacht als letzter Gast anreiste. Sowas prägt sich ein. Außerdem war ich jeden Abend zu Essen, was rein praktische Gründe hat. Selbstverständlich hätte ich auch ins Zentrum zum Essen fahren können. Aber von meinem letzten Aufenthalt weiß ich noch, dass ich irrigerweise in der Altstadt unter Deinem Schloß nach einer Lokalität suchte, um etwas zu essen, und letzlich bei einem Italiener landete, der mich nicht wirklich glücklich machte. Die anderen Abende habe ich wohl in dem Imbiss unter dem Hotel verbracht, was billig war und auch nicht viel schlechter.

Nein, hier draußen bin ich schon gut aufgehoben. Die Küche ist die schwäbische und das Spätzle mit dem Hirsch-Geschnetzelten war nicht nur besondern schmackhaft, nein, es war auch gar nicht teuer. Gut, die Kombination Curry-Blumenkohl-Suppe und Hirsch-Geschnetzeltes kann man sich sparen, das ist nicht so der Renner, aber jedes für sich, hatte schon was.

Heute mittag habe ich sogar Deine Topographie näher kennen gelernt und war ziemlich erstaunt. Eigentlich war ich ja der Meinung, dass von einer Felsenstraße zu einer Bergstraße nicht weit sein könne. So kann man sich täuschen. Wenn man einmal um den Block gelaufen ist und dann von einer Karte steht, die einem unmissverständlich klar zu machen versucht, dass man von völlig falschen Prämissen ausgegangen ist, dann kann einem schon schlecht werden. Aber das war ja auch der Grund, warum ich hier zu herum lief. Mir war nicht gut und ich suchte einen Arzt. (Womit ich mich von Dir direkt, liebes Heidenheim, erst einmal abwenden werde.)

Ich war der Meinung, dass Heidenheim ja nicht so groooß ist und man vielleicht bei einem HNO-Arzt kurz mal einen Termin bekommen könne, auf dass einem die Ohren durchgepustet werden. Die Arzthelferin beim ersten HNO-Arzt konnte darüber nur lachen. Nein! Hat sie natürlich nicht. Sie war verbindlich. Oder andersrum: Als Bedienung in diesem Hotel hier hätte sie nicht anfangen können. Dazu wäre sie zu verbindlich. Hier ist mehr Fröhlichkeit und Wärme angesagt. Die brachte sie nicht mit.

Nun wusste ich aus dem Internet, dass es in der Straße gleich zwei HNO-Praxen geben sollte. Also bin ich zu der zweiten Praxis und siehe da, die konnten mir noch einen Termin geben. Es war auch gar nicht so voll. Hätte mich das stutzig machen sollen?

Beim Runtergehen viel mir im Stockwerk unter Dir auf, dass ein Allgemeinmediziner Moskau heißen sollte. Ein merkwürdiger Name, fand ich, und überhaupt nicht gängig. Es braucht ein wenig, bis ich auf die Idee kam, dass es sich vielleicht um die Konkretisierung des Doktortitels handelt. Der liebe Arzt hatte seinen Doktortitel in Moskau gemacht. Komisch, dabei hatte er einen deutschen Namen.

Später kam ich dann zurück und saß im Wartezimmer. Ein Mann, etwas kräftiger und ein wenig kleiner als ich, wuselte in einem Zimmer herum. Bruderhelfer? Gibt es sowas? Da haut wohl Sprechstundenhilfe besser hin – das ist geschlechtlich neutral. Die Haare schwarz, die Hautfarbe dunkler als man es bei einem Heidenheimer Arzt gemeinhin vermuten würde. Ich wurde aufgerufen und nahm vor dem Behandlungsraum von Dr. Specht Platz. Die Tür ging auf, eine Patientin kam heraus und im Arztzimmer wuselte Dr. Specht, wie ich sehen konnte, der etwas kräftigere und kleinere Mann, den ich als Sprechstundehilfe eingeordnet hatte. Da bin ich wohl mal wieder Opfer meiner Vorurteile geworden.

Er sprach gebrochen Deutsch, aber gewiss tausendmal besser als ich jemals russisch konnte, davon mal abgesehen. Kontrollierte kurz meine Ohren und bestätigte mir – leider – dass meine Probleme wohl nicht von Ohrenschmalz herrühren würden und zog dann das volle Programm ab. Letztlich kamen wir überein, dass mir nichs fehlen würde und es Nachwirkungen meiner am Wochenende noch einmal aufkeimenden Erkältung waren. Sollte mir aber recht sein.

Nun war es nicht so voll bei dem HNO-Arzt wie bei den beiden quelldeutschen Ärzten, aber interessanter war es schon. Das Publikum war viel internationaler. Ich hätte Dr. Specht gern gefragt, wo er denn herkommen würde. Ich vermute mal, dass er ein Spät-Auswanderer aus Russland ist. Ein kleines Indiz (zumindest für mich), war das “leider, leider”, was er immer gern anbrachte. “Kein Ohrenschmalz, leider, leider.” oder “Der Ohrendruck ist o.k. – leider, leider müssen wir woanders suchen.”

So “leider” wird es für ihn nicht gewesen sein. In der Regel sind die Rechnungen von HNO-Ärzten für solche Untersuchungen immer dreistellig. Aber nett war’s.